Eigentlich habe sie nie mehr deutschen Boden betreten wollen, aber als in den achtziger Jahren eine Einladung zu einem Konzert nach Celle in der Nähe des Ortes Belsen in Niedersachsen an das English Chamber Orchestra, das sie mit gegründet hatte, ausgesprochen wurde, habe sie ihrer Neugier nachgegeben, den Ort wiederzusehen, in dessen Nähe sie vom November 1944 im Konzentrationslager interniert war – um zu sehen, wie er sich entwickelt habe. Und dieser Entschluss war fruchtbar, denn sie lernte dort einen jungen Historiker kennen, der den Auftrag hatte, in Bergen-Belsen eine Gedenkstätte aufzubauen. Mittlerweile gebe es dort bereits die dritte Gedenkstätte, jede besser, informativer, bewegender als die andere, wie Anita Lasker-Wallfisch voller Lob betonte. Diese Episode beleuchtet nach Ansicht des Verfassers zwei entscheidende Motive, die das Leben der Autorin nach dem Krieg und auch ihre Ausführungen auf der heutigen Lesung im Max-Ernst-Gymnasium leiteten: ihre selbstbewusste, neugierige, menschenfreundliche und offene Einstellung dem Leben gegenüber, trotz der leidvollen Erfahrungen in Auschwitz und Bergen-Belsen, und ihr Bedürfnis, den vielen stummen Opfern des Nationalsozialismus eine Stimme zu geben, um Zeugnis von der Vergangenheit in der Hoffnungzu geben, dass aus Geschichte zu lernen möglich sei.

 

Anita Lasker-Wallfischs Eltern wurden im April 1942 aus Breslau deportiert, die sechzehnjährige Tochter hat sie nie wieder gesehen: eine Folge auch des Vertrauens ihres Vaters, als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz hoch dekoriert, dass sich in Deutschland doch noch alles zum Guten wenden werde – ein verhängnisvoller Irrtum einer Familie deutscher-jüdischer Herkunft, die völlig assimiliert und wenig religiös war, denn nur die Eltern hätten an hohen Feiertagen noch die Synagoge besucht. Die Schwester Renate und sie selbst wurden im Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert, 1944 dann nach Bergen-Belsen, wo beide das Kriegsende und die Befreiung durch englische Truppen erlebten. Seit 1946 lebt Lasker-Wallfisch in London.

Im Anschluss an die Lesung aus ihrem Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ beantwortete sie eine Stunde lang Fragen der Schülerinnen und Schüler der Oberstufe und weiterer Zuhörer. Trotz ihrer 90 Lebensjahre offenbarte die Autorin eine ermutigende Selbstverständlichkeit des Weiterlebens nach der Katastrophe, die sie als Musikerin und Mutter von zwei Kindern charakterisiert.

Angesprochen auf die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik in Deutschland und Europa zeigte sie ihre Sorge darüber, wie die Krise vielleicht das Leben und die Einstellung der Menschen verändern werde. Die aktuelle Krise sei nicht mit der Situation der Flüchtlinge während der Zeit des Dritten Reiches zu vergleichen, aber nicht unreflektierte Ressentiments und pauschale Ablehnung sollten die Antwort sein, man solle vielmehr sein Gehirn gebrauchen, miteinander Kaffee trinken und einander zuhören, dann werde man schnell Gemeinsames und Verbindendes entdecken, das bei weitem das Trennende überwiege. Diese – ich möchte sagen: humanistische – Weltsicht verband Lasker-Wallfisch mit der Überzeugung, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen, Menschen nicht pauschal als Masse oder Gruppe wahrzunehmen, sondern als einzigartige Individuen. Nicht Gott, sondern die Menschen gestalteten ihr Leben in dieser Welt.

Was über Auschwitz berichtet werde, das Leiden der Häftlinge, die Grausamkeit der Bewacher, all das sei wahr, betonte Frau Lasker-Wallfisch. Auf die Frage, warum sie ihre auf dem Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer nicht habe beseitigen lassen, stellte sie fest, dass sie ihre Geschichte nicht verleugnen wolle, sie gehöre zu ihr und sie wolle lieber darüber Zeugnis ablegen – zeigen, dass Auschwitz-Leugner die Unwahrheit sagten.

Zuletzt betonte die Autorin noch einmal ihre Hoffnung, dass es möglich ist, aus der Geschichte zu lernen und dass es sich lohnt, Fragen zu stellen, miteinander zu kommunizieren. Der Mensch besitzt so viele Seelen, wie er Sprachen beherrscht, habe ihr Vater in glücklicheren Tagen gesagt.